Als wir im Frühjahr dieses Jahres aufgrund des Corona Virus ein ganzes Monat sehr viel Zeit Zuhause verbrachten, begann unsere Tochter ein bestimmtes Verhalten immer wieder zu zeigen. Sie ließ sich dabei mehrmals täglich demonstrativ auf den Boden fallen und schrie laut "aua". Sobald sie nicht sofort meine Aufmerksamkeit haben konnte oder ihr etwas verwehrt wurde, kam das Verhalten wieder hervor. Ich hatte nie Angst, dass sie sich wirklich verletzen konnte. Das Schreien wirkte weniger schmerzerfüllt, aber mehr 'gespielt' und dramatisch überspitzt.
Trotz des Dramas nahm ich das Verhalten sehr ernst. Ich grübelte viel darüber nach, was sie mir damit wohl mitteilen wollte. Selbst wenn ich mir täglich ganz bewusst Zeit für sie nahm, sie gesättigt und ausgeschlafen war - das Verhalten verschwand nicht. Da wir zu dieser Zeit unsere Pikler-ElternRäume über Online-Videokonferenzen abhielten, besprach ich die Situation mit der Pikler-Pädagogin. Ich schilderte ihr Malia's Verhalten und wie ich mich dabei fühlte.
Nach einigen Überlegungen stellte die Pädagogin eine bedeutende Frage in den Raum: "Gibt es irgend eine Person in Malia's eng vertrautem Umfeld, die zu Drama neigt? Eine Person, die aus jeder Mücke einen Elefanten macht?". Ich dachte kurz über ihre Worte nach und musste dann laut loslachen. In diesem einen Moment wusste ich, die Lösung gefunden zu haben und ein Stein fiel mir vom Herzen. "Ja, ich selbst" - antwortete ich mit Leichtigkeit. Auch wenn ich nach außen meist ausgeglichen und ruhig wirke, spielen sich in mir oft große Dramen ab. Aus Kleinigkeiten mache ich häufig große Probleme und puste sie zu Katastrophen auf - wie ein Luftballon, der zum Platzen gefüllt ist. Gerade in dieser Zeit der Krise, spielte sich innerlich oft so ein Vorgang in mir ab.
Die Pädagogin gab mir zwei Ratschläge. Sie ermutigte mich einerseits mit mir selbst liebevoll umzugehen. Im nächsten Fall des Dramas sollte ich mich keineswegs verurteilen, sondern mit liebevollen Augen betrachten und das Dramatische als Teil von mir anerkennen. Andererseits sollte ich dann auch versuchen, Malia's Verhalten mit dieser Akzeptanz zu begegnen. So kann ich ihr die wunderbare Botschaft geben: Du bist okay, so wie du bist. Ich liebe dich mit allen deinen Emotionen. Du spürst richtig, ich neige zu Drama und du kennst das auch.
Als sich unsere Tochter am darauffolgenden Tag wieder auf den Boden schmiss, sagte ich: "Ich sehe das ist jetzt ein Drama für dich. Aus einer kleinen Mücke ist ein Elefant geworden. Ich verstehe das so gut mein Schatz. Ich kenne das auch". Das war eine der wenigen letzten Situationen, in denen Malia dieses Verhalten zeigte. Sie fühlte sich nun gesehen und verstanden. Die ganze Zeit hatte sie mein Verhalten kopiert und mir mitgeteilt: "Liebe Mama, ich spüre dein Drama. Ich finde es ganz anstrengend, welche Katastrophen du durchlebst. Ich möchte mich gerne wieder wohlfühlen und wissen, ob ich richtig spüre?". Das Ansprechen und die Akzeptanz ihrer Emotionen half ihr, das herausfordernde Verhalten hinter sich zu lassen und wieder in ihre Ausgeglichenheit zurück zu finden.
Jesper Juul schreibt über das Kopieren von Verhalten, dass es der Kooperationsbereitschaft von Kindern entspringt. Kinder möchten mit ihren Vertrauenspersonen so gerne kooperieren, dass sie deren Verhalten entweder kopieren oder darauf reagieren. "Sie gehen den Dingen auf den Grund. Zwar tun sie dies unbewusst, doch legen sie mit untrüglichem Gespür den Finger in die Wunde und steuern direkt auf den Konflikt zu, der das Wohlergehen der Familie beeinträchtigt." (S. 52) Eine Kooperation sieht demnach also stets anders aus, als wir Erwachsenen uns das wünschen würden. Wenn wir den Kooperationswillen des Kindes achten und uns als Familie als 'Team' sehen, dann können wir Herausforderungen als große Chancen des gemeinsamen Wachstums erfahren.
Als Eltern haben wir zwei Möglichkeiten. Entweder wir schieben die Schuld auf das Verhalten des Kindes oder wir nehmen selbst Verantwortung und somit die Botschaft ernst, dass sich irgendetwas in unserem Zusammenleben ändern muss, damit sich jedes Familienmitglied wieder wohl fühlt. Immer wenn ich mich für die zweite Option entscheide, kann ich im Emotionalen Heilsames bewirken und sowohl meinem als auch dem Selbstgefühl des Kindes etwas ganz Gutes tun.
Literatur:
Juul, Jesper (2019): Dein kompetentes Kind. Auf dem Weg zu einer neuen Wertgrundlage für die ganze Familie (16. Aufl.). Hamburg: Rowohlt